Über das Buch
Erwin Ruckriegel, ein arbeitsloser Dramaturg, bietet im Internet seine Dienste als ghost-writer an. Als Shulamit von Weltenau
sich bei ihm meldet, um die Geschichte ihres Lebens von ihm schreiben zu lassen, ist er hin und her gerissen. Eigentlich hat er
gar keine Lust zu arbeiten; doch zum einen ist er von ihr fasziniert, zum anderen zwingt ihn seine finanzielle Situation zuzusagen.
In drei Büchern wird ein historischer roter Faden durch das letzte Jahrhundert in Europa gezogen.
„Den ersten Stein“ manifestiert zunächst den ghost-writer als Funktionsträger der Rahmenhandlung. Shulamits
Erzählung beginnt mit dem Suizidversuch ihres Schwiegervaters, eines eingefleischten Antisemiten und endet im ersten Buch mit dem
Motiv für denselben. Ein Haus in Italien, das dereinst Partisanenschaltzentrale der Gegend war, wird zum Schlüssel der Geschichte,
deren zweites Buch...
„Im Haus des Bruders“ mit dem Vollzug des Suizids endet.
Das dritte Buch „Nacht in den Bergen“ klärt schließlich die Position Shulamits. Sie kommt aus einer jüdischen
Familie, die in der Nazizeit die Hölle erlebt hat. Im Laufe ihrer Zusammenarbeit kommen sie und Erwin einander näher, bis er
schließlich merkt, dass er aktiver Teil der Geschichte ist, die sich mittlerweile zur dialektischen Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit entwickelt hat.
Letztlich stellt sich heraus, dass sie ihn mit Bedacht zu ihrem ghost-writer erkoren hat.
Drittes Buch - Nacht in den Bergen, Kapitel 8
Gad und Redda, meine späteren Großeltern lernten sich bei einem Konzert in Paris kennen, wo Redda mit ihrem Vater lebte. Sie
war zwölf Jahre alt. Ein kleines Mädchen mit langen, schwarzen Zöpfen. Gad, zum damaligen Zeitpunkt siebenundzwanzig, begleitete
eine junge Sängerin auf der Geige, und nach dem Lied gab es einen gewaltigen Applaus. Redda saß in der ersten Reihe und klatschte
keineswegs. Sie stand auf und verließ den Saal. Seine im ersten Moment empfundene Verunsicherung wich einer gelinden Belustigung.
Er wusste, dass sie die Enkelin seines ehemaligen Professors war und den Ruf hatte, so talentiert wie eingebildet zu sein.
Tags darauf war er bei ihrer Familie zum Mittagessen eingeladen. Er saß ihr gegenüber, und als er sie fragte, warum sie
sich nach dem Konzert nicht dem allgemeinen Applaus angeschlossen, sondern den Raum verlassen hätte, antwortete sie: „Senhor,
ich liebe die Musik, und was Sie da veranstaltet haben, war nicht das, was ich unter Musik verstehe“. Auf seine Frage, was es
denn ihrer Meinung nach gewesen wäre, und was sie unter Musik verstünde, antwortete sie ihm: „Musik setzt sich aus wahrhaftigen,
lebendigen Tönen zusammen, die miteinander spielen und kämpfen, sich umgarnen und tanzen, die klagen und lachen und sich in den Herzen
der Zuhörenden vervielfältigen wollen. Die Aufgabe des Musikers ist es, sie zum Leben zu erwecken, ihnen Flügel zu verleihen, damit
sie tanzen, klagen, spielen, kämpfen und lachen können. In Ihrem Spiel habe ich keinen einzigen wahrhaftigen Ton vernommen!“
Sein Spiel so wie die Darbietung der Sängerin wäre eitel gewesen. Er hätte die Musik missbraucht, um sich als Person feiern zu lassen
und nicht, um die Empfindung zu transportieren. Für sie wäre Musik eine Möglichkeit, Gefühle auszudrücken, und nicht, die Welt von der
Großartigkeit des Interpreten zu überzeugen. Um dies zu verdeutlichen, setzte sie sich ans Piano und spielte. Er war überwältigt von
der Kraft der Empfindung, die ihn, wie er uns gegenüber stets betonte, wie ein Hammer traf, und fragte sie nach dem Musikstück und dem
Namen des Komponisten. Sie antwortete ihm, das wäre nichts anderes gewesen, als ihre augenblickliche Empfindung, die sie mit der Hilfe
des Klaviers und ihres Körpers hätte ausdrücken wollen. Und dann sagte sie: „Haben Sie es nicht gehört? ich bin in Sie verliebt!
Das wollte ich Ihnen damit sagen.“ In die Peinlichkeit seines Schweigens hinein sagte sie lachend: „Sie müssen noch sehr
viel lernen, Senhor!“
Ja, genau so war sie. Daran gab es zu keiner Zeit auch nur den geringsten Zweifel. Dabei war sie damals erst zwölf Jahre alt.
Er war ein ausgesprochen attraktiver junger Mann, der von der Damenwelt verehrt wurde. Die Sängerin, mit der er aufgetreten war, war
eine schöne Frau und seine damalige Geliebte. Sie war bei dem Essen nur deshalb nicht zugegen, weil sie unpässlich war und sich
entschuldigen hatte lassen. Doch auch wenn sie anwesend gewesen wäre, hätte Redda nichts anderes gesagt. Ihre Aufrichtigkeit war
umwerfend. Schonungslos versuchte sie stets genau das zu vermitteln, was ihre Intention war. Und tatsächlich hatte sie nie nur mit
den Armen und Händen Klavier gespielt, sondern unter Einsatz der gewaltigen Kraft ihres Körpers.
Zwei Tage bevor der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde Reddas Vater von einem scheuenden Gaul erschlagen. Er hatte sich dem
Tier in den Weg gestellt, um dessen Amoklauf zu stoppen. Der eisenbeschlagene rechte Vorderhuf zertrümmerte dem Mann den Schädel,
der auf der Stelle tot war. Damals war Redda dreizehn Jahre alt. Ihre Mutter war an der Tuberkulose gestorben, als Redda zwei Jahre
alt war. Ihr einziger, sehr viel älterer Bruder aus der ersten Ehe ihres Vaters, war längst verheiratet und lebte weit entfernt in
Deutschland. Ansonsten war das Kind nun allein und wurde in die Obhut eines Onkels und seiner Familie gegeben, der zur damaligen Zeit
an der Oper in Madrid als Kapellmeister beschäftigt war. Ihre Eltern waren Spanier gewesen; sie selbst war in Madrid geboren worden,
so dass sie die Sprache perfekt beherrschte. Und nach dem Tod ihres geliebten Vaters bedeutete ihr Frankreich ohnedies nichts mehr.
Der Onkel erkannte sofort das Talent der Kleinen und förderte sie, so gut es ging. Bereits mit vierzehn Jahren war sie die gefeierte
Pianistin der Madrider Oper, die das Auditorium zu Begeisterungsstürmen hinriss.
Sie war keineswegs eine Schönheit. Ihre schwarzbraunen Augen waren sehr groß und traten ein bisschen zu stark aus den
Augenhöhlen hervor, was durch die dicken Brillengläser, die wie Lupen wirkten, optisch noch verstärkt wurde. Ihre Nase war gebogen
wie der Schnabel eines Papageis. Der Überbiss ihres Zahnstandes ließ ihr Gesicht vollends dem Gesicht eines Vogels ähneln. Sie war
von kleiner Statur und hatte, auch als sie erwachsen war, kaum Busen. Ihre Haare allerdings müssen zu diesem Zeitpunkt prachtvoll
gewesen sein. Blauschwarze Locken, die sie in dicken Zöpfen bändigte. „Sie waren dick wie Bäume!“, sagte Großvater.
Lange sah es so aus, als hätte das kleine hässliche Vögelchen nicht die geringste Chance, den damals bereits bekannten Geiger an
sich zu fesseln, doch Gad war von ihrer Art beeindruckt; und wer Redda kannte, der wusste, dass sie auf dem direktest möglichen Weg
ihr Ziel ansteuerte und erreichte.
Gad brach im Oktober 1913 zu einer Tournee ins ferne Amerika auf und kehrte erst 1918 nach Europa zurück, als der Krieg beendet
war. Als er „die kleine Nachtigall“, wie er Redda nannte, wieder sah, verliebte er sich auf der Stelle in sie. Er war
dreiunddreißig, für die damaligen Verhältnisse schon kein junger Mann mehr, als er mit der Achtzehnjährigen zu Straßburg unter die
Chuppa trat, um ihr das Jawort zu geben.
Und jeder, der die beiden kannte, wusste, dass sie einander liebten und verehrten.